1971 - 1974: Vom Damenstift zum Studentenwohnheim
"...von einigen undichten Stellen abgesehen, durchaus bewohnbar"
Das "unzweckmäßige Innere" des Damenstiftes Schwesternhaus bereitete dem Verwaltungsrat der Schwesternhausstiftung schon seit Mitte der 50er Jahre Kopfzerbrechen. Ofenheizung und Gemeinschaftstoiletten entsprachen bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr modernen Ansprüchen an altengerechtes Wohnen. Da aber eine Modernisierung des alten Stiftsgebäudes in der Schwesternhausstraße eine sehr kostspielige Angelegenheit geworden wäre, entschied man sich Ende der 60er Jahre für einen völligen Neubau. Dem entgegen kam, daß die unter chronischem Platzmangel leidende Tierärztliche Hochschule schon länger Interesse an dem Grundstück gezeigt hatte. Im April 1970 begannen die Bauarbeiten für das neue Stiftsgebäude in der Brabeckstraße 92 in Bemerode. Das alte Haus wurde im Juli 1970 zusammen mit dem Grundstück für 2,2 Mio. DM als Vorratsfläche für die Tierärztliche Hochschule an das Land Niedersachsen verkauft.
Zwischennutzung von Studierenden?
Ein im März 1971 vom Wissenschaftsrat verabschiedeter Ausbauplan für die Tierärztliche Hochschule sah dann den Abriß den Schwesternhauses und den Neubau eines sogenannten "Dreier-Institutes" vor, das das Institut für tierärztliche Lebensmittelkunde und Fleischhygiene, das Institut für Milchkunde und das Institut für Biometrie und Dokumentation beherbergen sollte. Im Laufe der nächsten Monate stellte sich jedoch heraus, daß dem Land keine finanziellen Mittel für Hochschulneubauten mehr zur Verfügung standen. Nicht einmal Geld für den Abriß des alten Schwesternhauses sollte noch vorhanden sein. Ebbe in allen Kassen. Da schlug der damalige Rektor der TiHo, Prof. Hans Hill, dem AstA der TiHo vor, das Schwesternhaus übergangsweise für studentisches Wohnen zu nutzen. Zunächst rechnete man mit einer Dauer von 8-10 Monaten für diese Zwischennutzung bis zum Abriß.
Die Wiege der Selbstverwaltung
Die Vergabe der Wohnungen und die Verwaltung des Hauses sollte der AstA übernehmen und dabei außerdem für Ruhe, Ordnung und Sauberkeit sorgen. Angesichts der ungünstigen Lage auf dem Wohnungsmarkt wurde Hills Vorschlag vom AstA aufgegriffen, allerdings sah man sich wegen der damit verbundenen kontinuierlichen Arbeitsbelastung nicht dazu in der Lage, die Verwaltung des Schwesternhauses selbst zu übernehmen. Statt dessen wurde vorgeschlagen, die Verwaltung den zukünftigen studentischen Bewohnern selbst zu übertragen, also eine Selbstverwaltung einzurichten - ein Vorschlag, der von Hill akzeptiert wurde. Es ist der nachdrücklichen Unterstützung der Idee durch Prof. Hill zu verdanken, daß in den nun folgenden Verhandlungen beim zuständigen Kultusministerium die Nutzung des Schwesternhauses für studentisches Wohnen erreicht werden konnte. Beim Kultusministerium bestand vor allem die Befürchtung, daß durch eine solche Nutzung zusätzliche Kosten auf das Land zukommen könnten. Nach einer Besichtigung vor Ort fand am 5. Juli 1971 im Kultusministerium die entscheidende Besprechung mit leitenden Ministerialbeamten und Vertretern der TiHo statt. Hier gab die Landesregierung ihre Zustimmung zur (übergangsweisen) Nutzung des Schwesternhauses als Studentenwohnheim - ein folgenreiches Ja-Wort. Bedingung war allerdings, daß dem Land dadurch keine Kosten entstünden. Der Neubau des Damenstiftes in der Brabeckstraße war inzwischen fertig gestellt, so daß Anfang Juli 1971 der Umzug der Stiftsdamen nach Bemerode stattfinden konnte. Einige Altmieter blieben allerdings zunächst noch in der Schwesternhausstraße, bis auch sie eine neue Bleibe gefunden hatten.
Übergabe an die Tierärztliche Hochschule
Am 30. Juli 1971 fand die offizielle Übergabe des alten Stiftsgebäudes in der Schwesternhausstraße an die Tierärztliche Hochschule statt. Im Übergabeprotokoll wurde dabei über den baulichen Zustand des Hauses vermerkt: "abgesehen von einigen undichten Stellen im Flachdach durchaus bewohnbar".
Zunächst wurden im AstA die Namen von Wohnungsinteressierten gesammelt. Grundsätzlich wohnberechtigt waren VMTA-Schülerinnen und Studierende der TiHo. Es erfolgte allerdings durch den AstA eine gewisse Vorauswahl mit politischem Anspruch: Verbindungsstudenten und Leute mit einer anderen sicheren Bleibe in Hannover wurden nicht akzeptiert. Auch bekamen Pärchen, die schon zusammen wohnten, im Schwesternhaus nur eine Wohnung. Durch die Wohnungsvergabe an Leute mit wirklichem Bedarf sollte erreicht werden, daß sich diese neuen Bewohner auch für das Schwesternhaus einsetzten. Drei Wohnungen wurden außerdem an "Angehörige der Arbeiterklasse" vergeben - auf jeder Etage eine -, die als Gegenleistung handwerkliche Arbeiten im Haus übernehmen sollten. Die Nachfrage nach einer Wohnung in einem heruntergekommenen selbstverwalteten Abrißhaus unter den eher konservativen TiHo-Studierenden war allerdings nicht allzu groß. Außerdem war es ja auch nur Wohnen auf Zeit, ein Risiko, das nicht viele auf sich nehmen wollten.
Wohnungsbesichtigung
An einem bestimmten Stichtag im Spätsommer 1971 besichtigten dann alle bisherigen 20-30 Wohnungsinteressierten zusammen das Schwesternhaus und suchten sich eine Wohnung aus. Unter diesen Erstbeziehern waren fast alle Mitglieder des AstA. Dabei wurden auch viele Wohnungen von Pärchen in Besitz genommen. Die Vergabe der anschließend noch freien Wohnungen erfolgte durch eine Hausversammlung. Wohnungsbewerber mußten sich dort vorstellen und eine Abstimmung über sich ergehen lassen. Einige Bewerber wurden auch abgelehnt, weil sie irgendwo in Hannover noch eine andere Wohnung hatten. Wer sich trotzdem einschleichen konnte, bekam später sozialen Druck zu spüren und mußte zumindest mit schlechtem Gewissen weiter wohnen. Es dauerte eine ganze Weile, bis alle Wohnungen vergeben waren.
Abschied der Stiftsdamen
Erst im Herbst 1972 wurde als letztes Wohnung 54, in der bis dahin ein pensionierter Polizeibeamter gewohnt hatte, von einem studentischen Mieter bezogen. Für viele der lange Jahre dort wohnhaften Stiftsdamen war diese Entwicklung nicht einfach zu verkraften. Erst mußten sie ihr geliebtes Heim verlassen und nun auch noch erleben, wie ihnen völlig fremde Menschen einer anderen Generation sich dieses bemächtigten. Außerdem boten den Stiftsdamen ihre neuen Wohnungen in der Brabeckstraße deutlich weniger Platz, so daß sie sich schweren Herzens von vielen Möbeln trennen mußten. Die erste Generation studentischer Bewohner im alten Schwesternhaus kam so günstig in den Besitz alter Möbel - heute z.T. wertvolle Antiquitäten. Auch die monströsen Teestubenschränke und der Altar in der Kapelle blieben so im alten Schwesternhaus zurück. Nur das Steinbild des Stiftsgründers Hermann Bödeker wurde mitgenommen und im Garten des Neubaus wieder aufgestellt.
Mietverträge mit Renovierungsverbot
Die mit dem Kultusministerium ausgehandelte Miete für eine Wohnung betrug anfangs 45 DM, später 55 DM. Die ersten Monate wurde die Miete noch in eine gemeinsame Hauskasse gezahlt, erst ab Januar 1972 wurden für jede Wohnung Einzelmietverträge mit der TiHo als Vermieter abgeschlossen und die Miete an das Land gezahlt. Noch bis 1990 lautete der letzte Absatz der Mietverträge stets: "Dem Mieter ist bekannt, daß das Wohngebäude Schwesternhaus zum Abbruch zwecks Errichtung eines Institutsgebäudes bestimmt ist und daher nur vorübergehend für Wohnzwecke zur Verfügung steht; ihm ist ferner bekannt, daß der in Aussicht stehende Abriß des Gebäudes es dem Vermieter verbietet, Instandsetzungen am und im Gebäude auf seine Kosten vorzunehmen" - eine Formulierung die Ende der 80er Jahre, als von Abriß und Neubau längst nicht mehr die Rede war, beim Abschluß des Mietvertrags bei frischgebackenen Schwesternhäuslern teilweise für erhebliche Verunsicherung sorgte.
Duschen im Schwimmbad
Vor allem die sanitären Einrichtungen hatten anfangs einen sehr niedrigen Standard. Es gab lediglich vier Gemeinschaftstoiletten pro Etage, Badezimmer existierten nicht. Zum Duschen mußten die Bewohner in das gerade fertiggestellte neue Studentenwohnheim am Bischofsholer Damm oder ins Schwimmbad gehen. Erst mit Hilfe der ersten Mieteinnahmen wurden 2 Standduschen pro Etage eingebaut. Auch das Gasleitungssystem war nicht ganz in Ordnung. Bei einer Druckmessung stellten die Stadtwerke einen erheblichen Abfall des Gasdrucks fest, der ein Leck vermuten ließ. Das Gas wurde daraufhin längere Zeit abgestellt. Der Garten des Schwesternhauses war zur Zeit der Übernahme ein dem Damenstift angemessener Park mit englischem Rasen und Ziersträuchern. Da sich niemand weiter um ihn kümmerte, entstand durch ungezügelten Wildwuchs bald ein verwunschener Naturgarten. Der wurde allerdings von den vielen Hunden im Haus regelrecht "zugeschissen". Zu den ältesten, noch heute gültigen Beschlüssen der Selbstverwaltung gehört denn auch das Hundeverbot im Garten. Tatsächlich entwickelten sich die zahlreichen Hunde durch Gestank und Lärm und durch ihre Hinterlassenschaften bald zu einem dauerhaften Diskussionspunkt im Haus. Schon im ersten Jahr gab es auch von der benachbarten Bundeswehrverwaltung Beschwerden über Hundegebell. Daraufhin erließ der TiHo-Rektor die Auflage, daß bei allein in der Wohnung zurückgelassenen Hunden die Fenster zu schließen seien. Kaum zu glauben, daß der TiHo-Rektor tatsächlich etwas derartiges vorschreiben konnte.
Salmonellenplage als Bewährungsprobe
Zu einer ernsten Bedrohung für das Schwesternhaus entwickelten sich 1973 mehrere Hunde mit chronischem Durchfall, bei denen Salmonellen nachgewiesen wurden. Vielen professoralen und studentischen (!) Hochschulangehörigen war das Schwesternhaus sowieso ein Dorn im Auge und wurde argwöhnisch betrachtet. So entwickelte sich in dieser Situation schnell eine Diskussion über das Haus an sich. Die Forderungen gingen bis zur sofortigen Schließung des mit "Salmonellenpuff" oder "Kommunistenwohnheim" titulierten Wohnprojekts. Erst nach teilweise nächtelangen Diskussionen mit Hochschulvertretern konnte der Konflikt beigelegt werden. Alle Bewohner und Hunde bzw. deren Ausscheidungen wurden auf Salmonellen untersucht. Die caninen Salmonellenausscheider wurden eingeschläfert, und auf dem Hochschulgelände wurden Hundeverbotsschilder aufgestellt. So konnte ein Ende für das studentische Wohnen im Schwesternhaus noch einmal abgewendet werden.
Einen Durchbruch in der öffentlichen Hochschulmeinung brachte aber erst 1974 ein Tag der offenen Tür im Schwesternhaus, zu dem auch einige der eigens eingeladenen TiHo-Professoren kamen. In den 14 Tagen davor wurde das Haus auf Hochglanz gebracht und der Flur im 2. Stock gestrichen und mit Wandmalereien versehen, um sich der Öffentlichkeit möglichst positiv zu präsentieren. Einige der professoralen und sonstigen Besucher waren durchaus angetan, so daß es danach an der TiHo vor allem im akademischen Mittelbau und auch bei einigen Professoren mehr Akzeptanz für das Schwesternhaus gab. Bis die Planungen zum Abriß des Schwesternhauses 1981 endgültig zu den Akten gelegt wurden, war es allerdings noch ein langer Weg.
Denkmalschutz für das Schwesternhaus
Eine Reihe von Fakten führte bis dahin dazu, daß das Schwesternhaus nicht mehr für TiHo-Zwecke genutzt werden konnte. 1974 wurde es unter Denkmalschutz gestellt, was den Abriß zwar nicht unmöglich machte, jedoch erheblich erschwerte. Deshalb wurde zunächst erwogen, das Schwesternhaus umzubauen und als Institut für Pathologie zu nutzen (mit Mikroskopiersaal im Garten). Dieser Plan wurde aber wegen zu kleiner Räume, zu niedriger Decken, zu geringer Tragfähigkeit der Böden und insgesamt zu hoher Umbaukosten wieder verworfen. Außerdem war inzwischen der vollständige Umzug der Tierärztlichen Hochschule an den Bünteweg beschlossene Sache, so daß größere Projekte am alten Standort abgeblasen wurden.
Da das Schwesternhaus 1970 zur Hälfte mit Bundesmitteln erworben worden war, mußte das Land Niedersachsen nun die Hälfte des Anfang der 80er Jahre auf 3,4 Mio. DM bezifferten Zeitwertes an den Bund zurückzahlen. Wahrscheinlich wäre der Abriß auch in der Öffentlichkeit auf erheblichen Protest gestoßen, da bereits ein ähnliches Wohnprojekt in der ehemaligen Kinderheilanstalt in der Ellernstraße auf diesem Weg kaltgestellt worden war. Trotzdem war es noch ein weiter, auseinandersetzungsreicher Weg, bis sich die Landesregierung offiziell und öffentlich zur nicht nur übergangsweisen und provisorischen sondern dauerhaften Nutzung des Schwesternhauses als Studentenwohnheim bekannte.
Michael Schimanski im Jahre 1997