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1848: Wie alles anfing
Die Gründung des ersten Schwesternhauses
"Welch ein Trost für eine brave Tochter des Mittelstandes, die ihre Eltern mit kindlicher Zärtlichkeit bis zum Tode pflegte, die eben darum oder wegen körperlicher Schwäche oder aus anderen Ursachen zu einer Verheirathung nicht schreiten konnte oder wollte, die ein halbes oder ganzes Menschenalter hindurch in fremden Häusern redlich diente und eben wegen ihrer Redlichkeit und Treue wenig oder nichts zu ersparen vermochte, welch ein Trost für sie, wenn sie nun ihr eigenes Stübchen mit einer gesunden Kammer fände, dort ihre Tage zu beschließen.“
Mit diesen Worten erläuterte Hermann Wilhelm Bödeker, Pastor an der Marktkirche in Hannover, im November 1845 erstmals die von ihm (auf Anregung des „Canzleiexpedienten“ A. F. Oehlkers) entwickelte Idee zur Gründung eines „Asyls für unbemittelte alternde Jungfrauen des Mittelstandes“. Für alte Dienstmägde und die Töchter des Adels und der höheren Staatsdiener sei gesorgt, nur die unverheiratet gebliebenen Töchter des Mittelstandes seien im Alter häufig unversorgt.
Bödeker schlug deshalb vor, auf einem von der Stadt geschenkten oder billig erworbenen Grundstück vor den Toren der Stadt ein Haus mit 20-40 Wohungen - bestehend aus Stube, Kammer und Küche - zu bauen. Für regelmäßige Morgenandachten sollte ein gemeinsamer Raum sowie „zur Promenade“ ein gemeinsamer Garten geschaffen werden.
Ein "Genie im Wohlthun"
Hermann Wilhelm Bödeker (1799-1875), zeitgenössisch als „Genie im Wohlthun“ charakterisiert, gehörte zu den bedeutendsten hannoverschen Geistlichen des 19. Jahrhunderts. Er war als spontan, pathetisch und packend sprechender Kanzelredner außerordentlich bebliebt. Diese Beliebtheit und Rednergabe nutzte er, um von Arm und Reich, auch unter sanftem Druck, Geld zu sammeln und damit ein weitgespanntes Wohltätigkeits- und Vereinswesen zu finanzieren: Bödeker begründete 5 Vereine, darunter den Tierschutzverein, sowie eine „Volksschullehrerwitwenkasse“, eine „Säuglingsbewahranstalt“, ein Rettungshaus „für verdorbene Knaben“, die Marienstiftung zur Ausbildung mittelloser weiblicher Dienstboten und das Sabbathhaus „für treue alte Dienerinnen“. Bödekers soziale Tätigkeit zielte dabei auf bürgerliche Mildtätigkeit, auf Abmilderung, nicht aber auf Beseitigung sozialer Mißstände. Den Höhepunkt seines Engagements bildete das „Damenstift Schwesternhaus“. Ihm widmete er den größten Aufwand an Zeit und Kraft.
Als 1847 der hannoversche König den Abriß des städtischen Lyceums am Friederikenplatz verfügte, „welches ihn dort sehr genirte“, nahm Bödekers Idee zur Gründung eines „Asyls für unbemittelte alternde Jungfrauen aus dem Mittelstande“ konkrete Formen an. Er kaufte das Lyceum „auf Abriß“ für 3000 Thaler, erwarb von der Stadt für 1500 Thaler einen Bauplatz südlich des Aegidientores (heute: Meterstr. 27 in der Nähe des Aegidientorplatzes) und ließ dort nach den Plänen des hannoverschen Zimmermeisters August Holekamp das erste Schwesternhaus errichten. Die Finanzierung des Baus bereitete Pastor Bödeker allerdings erhebliche Schwierigkeiten. „Zu meinem Erschrecken bemerkte ich, daß ich mich mit zwei Pferdekraft an ein Werk gewagt hatte, das mindestens fünfzig Pferdekraft erforderte.“ Schon die Kaufsumme für Lyceum und Grundstück aufzubringen, bereitete Probleme.
Aktien und Bittbesuche
Die ganze Angelegenheit stand in Frage - auch weil zu dem Baumaterial aus dem abgebrochenen Lyceum noch einmal die dreifache Menge hinzu gekauft werden mußte. Ende 1847 entstand die Idee, die Baukosten durch „Actien“ zu 25 Thalern mit einer Laufzeit von 10 Jahren und einer Verzinsung von 2% zu finanzieren. Daneben sollte auch die Möglichkeit zur Zahlung von „jährlichen Beiträgen“ bestehen. Innerhalb von 6 Monaten gelang es, vor allem durch den unermüdlichen fast täglichen Einsatz von Pastor Bödeker, die für den Weiterbau notwendigen Kleinkredite zu beschaffen. Bödeker machte in dieser Zeit etwa 600 Bittbesuche. Von den Gesamtkosten in Höhe von 29000 Thalern wurden 8000 Thaler durch den Verkauf von Wohnrechten im Stift aufgebracht, die Stadt Hannover stundete den an sie zu zahlenden Betrag von 5000 Thalern für das abgebrochene Lyceum und das Grundstück, 5000 Thaler kamen durch „Actien“ zusammen und 11000 Thaler stammten von einem einzelnen Kreditgeber. Die Zinsen für die Schulden konnten fast vollständig durch die „jährlichen Beiträge“ bezahlt werden, so daß die Mieteinnahmen zur Schuldentil-gung verwendet werden konnten.
Der Name „Schwesternhaus“ sollte für die zueinander einzunehmende Haltung der Bewohnerinnen stehen: „Schwesterliche Liebe sollte darin herrschen, schwesterliche Duldung darin regieren, schwesterliche Eintracht und Schonung das Regiment haben, schwesterliche Freundlichkeit und Theilnahme das Scepter führen“ - so beschrieb Bödeker anläßlich der Einweihung des Stiftsgebäudes am 5. Dezember 1848 seine Erwartungen an den „Geist unter den Bewohnerinnen dieses Hauses“. Gemäß den ersten Statuten und abweichend von der ursprünglichen Idee konnten in das „Asyl für hülfsbedürftige Frauenzimmer aus dem gebildeten Stande“ nicht nur unverheiratete Frauen, sondern auch Witwen einziehen. Die Aufnahme erfolgte nach einer einmaligen Zahlung von 300 Thalern oder gegen eine jährliche Miete von 24 Thalern, wobei sich einkaufende Bewerberinnen bevorzugt wurden. Voraussetzungen waren ein unbescholtener Ruf und ein Mindestalter von 25 Jahren. Außerdem durften die Bewerberinnen nicht an Krankheiten leiden, die ihre Mitbewohnerinnen möglicherweise belästigen konnten, z.B. Epilepsie, „Krebsschaden im Gesichte, Gemüthskrankheiten“ usw.
Auszug nur bei Heirat
Die Verwaltung des Stiftsvermögens geschah durch einen Verwaltungsrat unter Vorsitz Bödekers, in dem die 37 Stiftsdamen durch 2 aus ihrer Mitte gewählte Vertreterinnen, Priorin und Substitutin, vertreten waren. Die beiden sollten im Haus über Ordnung, Sitte und Anstand wachen. Eingekaufte Stiftsdamen konnten unter Rückzahlung der Einkaufssumme von 300 Thaler nur wieder ausziehen, wenn sie heirateten. Zum Haus gehörte auch ein großer Garten, in dem für jede Stiftdame eine Parzelle zum Gemüseanbau abgeteilt war. Dazu hatte der hannoversche König für jede Bewohnerin zwei Obstbäume gestiftet. Außerdem wurden von den Stiftsdamen in Zusammenarbeit mit der Marienstiftung Dienstmädchen ausgebildet.
Eine Hausordnung regelte das Leben im Schwesternhaus bis ins Detail: Die Haustüren waren zwischen 22 Uhr und 5 Uhr verschlossen. Wer später nach Hause kam, mußte dies vorher bei der Wärterin des Erdgeschosses anmelden. Zweimal wöchentlich fand morgens im Saal des Schwesternhauses eine Betstunde statt, „woran die Beteiligung sämtlicher Anstaltspersonen dringendst gewünscht wird“. Neben der Priorin und der Substitutin gab es unter den Stiftsdamen eine Oeconomin, die über die Brennstoffvorräte des Hauses wachte, eine Bibliothekarin, die die Stiftsbibliothek verwaltete, sowie auf jeder der 3 Etagen eine Inspektorin, die die Vorgänge auf dem jeweiligen Flur überwachte. Außerdem waren ein Hofmeister, der Hof und Garten in Schuß hielt, und drei Wärterinnen als Putzfrauen angestellt. Zu vermeiden war alles, „was die Ruhe, Sicherheit, Ehre und den Frieden des Hauses stört“. Bedürfnisse aus dem Keller und vom Boden mußten vor dem morgendlichen Putzen erledigt werden. Das Auftreten von Wanzen in den Möbeln einer Bewohnerin zog die sofortige „Entfernung“ der entsprechenden Stiftdame nach sich. Es war verboten, Betten oder Wäsche aus dem Fenster zu hängen, etwas aus dem Fenster zu schütten, in den Wohnungen Holz oder Torf zu zerkleinern, mit offenem Licht den Boden zu betreten, im Garten Wäsche zu bleichen oder zu trocknen und Messer „auf Treppen und Schwellen zu wetzen“.
Michael Schimanski im Jahre 1997