Hannovers selbstverwaltetes Studierendenwohnheim


1987 - 1990: Wie das Haus an die Schwestern fiel

Abrißbirne oder Instandsetzung?

Wo heute die Kapelle ist, war einst ein mit einer Holzplatte fest verschraubtes Doppelportal. Dahinter ein Berg von Taubenkot und verrottenden Taubenkadavern, garniert mit ein paar Trümmerresten, die nach dem Bombenangriff und dem Brand vergessen hatten, vollends zu Boden zu fallen. Über einen verwinkelten Einstieg mit einer Holzleiter in den Resten des ehemaligen Dachgeschosses konnte man auf den ganzen Salat runterschauen. Eigentlich hat die Hausübernahme nicht mit dem Kapellenausbau angefangen, das war nur der finale Auslöser. Ich bin davon überzeugt, daß die Übernahme des Hauses durch den Verein auf keine andere Art und zu keinem anderen Zeitpunkt gelingen konnte. Es wäre nicht früher möglich gewesen, und heute würde es schon gar nicht gehen. Vieles hat da mit hineingespielt.

Es fängt an mit der "großen" Politik. Ohne Gorbi, Glasnost und Perestroika wäre das Haus heute mit ziemlicher Sicherheit abgerissen, und an seiner Stelle würde sich ein Ziegel-Beton-Verwaltungsgebäude der Bundeswehr erheben (die Kastanien und der Garten wären vermutlich einem Parkplatz gewichen). Auch die mittelprächtige Politik hatte ihre Rolle, denn wäre in Niedersachsen die Administration Schröder schon einige Zeit im Amt gewesen, oder wären die Auswirkungen der in Folge der Wiedervereinigung sichtbar gewordenen Strukturkrise in Deutschland schon spürbar gewesen, dann wäre das Ganze am Geld gescheitert. Und wären wir bei unseren Gesprächen mit der Verwaltung (Ministerium für Wissenschaft und Kultur, MWK) auf das getroffen, was man unter deutscher Verwaltungsmentalität versteht anstatt auf offene, flexibel denkende und engagierte Leute, dann wäre die Prognose tiefschwarz gewesen.

Natürlich brauchten wir auch einen dem Haus und der Idee verbundenen Bausach-verständigen bzw. Architekten. Eine Lanze für Bernie Jaspers, der das Haus mit all seinen baulichen und insbesondere bewohnerlichen Besonderheiten und Wehwehchen kannte und mochte. Schließlich die Voraussetzungen im Haus selbst. Schon lange vor der eigentlichen Übernahme hatten weitsichtige Leute den Schwesternhausverein gegründet, schon vorher wurde das Haus auf Betreiben der Bewohner unter Denkmalschutz gestellt. Und als dann schließlich die Gelegenheit kam, waren die Hausaufgaben gemacht und wir konnten reagieren.

Die Verwaltungsreform als Revolution

Die wohl wichtigste (nicht die einzige) Veränderung in der Struktur der Heimselbst-verwaltung betraf die Etablierung einer einzigen, zentralen Heimkasse - vor dieser Zeit herrschte in finanziellen Dingen eine weitgehende Flurautonomie. Mit der Änderung wurden die Flurkassen in Auszahlungsstellen der Hauskasse umgewandelt. Wir im Haus wußten zum ersten Mal, wieviel Geld eigentlich zur Verfügung stand: die Heimkasse verfügte über Reserven in der Größenordnung von fast 50.000,- DM, und mit dieser Summe ließ sich schon was anfangen. Auf dieser Grundlage wurde dann der Plan, die Kapelle zu renovieren ins Auge gefaßt und konkretisiert. Wie und wann dieser Plan genau geboren worden ist, weiß ich nicht genau - ich vermute einen fröhlichen Abend im Zirkel der damalig "ehemaligen" Vorständler Edith Großecosmann, Tom Till, Dirk Remmler, Det Wieberneit und anderen. Auch Thomas Geishauser war für längere Zeit wieder als Gast im Haus. So stellte das Haus nach der nächsten HVV und nach eingehender Diskussion den Antrag auf ”Erlaubniserteilung zur Renovierung der Kapelle auf eigene Kosten” an den Gebäudeträger, die TiHo Hannover.

Damit war der Stein losgetreten. Irgendwann saßen Lutz Koopmann (der damalige Heimsprecher) und ich drüben im ehemaligen TiHo-Verwaltungsgebäude bei Herrn Linnemann, dem Kanzler, um Details hinsichtlich einiger eingereichter Änderungsvorschläge der Heimselbstverwaltungs-Satzung zu diskutieren. Damals war das alles noch von der Zustimmung der TiHo-Verwaltung in Gestalt ihres Kanzlers abhängig. Das Gespräch verlief recht freundlich, und irgendwann kam die Sprache auch auf den Plan zur Kapellenrenovierung. Von Herrn Linnemann kam kein "Nein" und kein "Ja", nicht mal ein klares "Jein". Seine Antworten liefen eher auf die Art eines "Tjjaaa" hinaus...

Die Erklärung dafür kam etwas später, als wir zum ersten Mal zum Gespräch ins MWK eingeladen wurden, dem die TiHo und damit das Schwesternhaus unterstand. Die TiHo wollte das "Problem Kapelle" nicht in eigener Verantwortung entscheiden. Das Gespräch verlief, wie auch alle dann weiter folgenden, in ausgesprochen freundlicher und konstruktiver Atmosphäre. Frau Valentin und Herr Dr. Jakob, unsere Verhandlungspartner im MWK, kamen nach einigem Vorgespräch schließlich auf den Punkt: Mit unserem Angebot, die Kapelle für das Land kostenlos zu renovieren, hatten wir das Ministerium in Schwierigkeiten gebracht. Denn die Annahme dieses Angebots wäre für das Land einer Art Schenkung gleichgekommen. Damit hätte sich dem MWK die Verpflichtung gestellt, dieses Angebot dem Wert nach in Zukunft zu erhalten - und das ging nicht, denn dafür hatte das MWK keinen Etat zur Verfügung. Andererseits gefiel unsern Gesprächspartnern offensichtlich der Gedanke, ihnen gefiel auch das Haus und sein Modellcharakter insgesamt (sie haben uns eingehend nach dem Alltag im Haus befragt). Deshalb wollten sie diese eigentlich logische und sinnvolle Idee nicht einfach durch ein "Nein" abschmettern. Ohnehin befanden sie sich, das Haus betreffend, in ziemlichen Zugzwang (s.u.), und so fiel dann irgendwann der Satz: "Wenn Sie schon diese Kapelle renovieren wollen, warum nehmen Sie dann nicht gleich das ganze Haus? Dann können Sie mit der Kapelle machen, was Sie wollen."

Die Kapelle oder doch das ganze Haus?

Mit der Renovierung der Kapelle begann im Schwesternhaus eine neue Zeit

Wir reagierten (aus der Rückschau betrachtet, erstaunlich) professionell, d.h. nicht überrascht (in Wirklichkeit war ich es schon, und Lutz auch, wie ich glaube). Ja, wenn sich diese Perspektive ernsthaft stelle, dann wollten wir das natürlich viel lieber tun, als nur die Kapelle zu renovieren!

Am besten fasse ich mal die Gesamtsituation, so wie sie sich damals aus der Sicht des Ministeriums dargeboten haben mag, zusammen:

  • Das denkmalgeschützte Haus, das offiziell den Status eines Abbruchhauses hatte, zu sanieren, würde das Land teuer kommen. Schon eine Kostenschätzung, die mehrere Jahre vorher vom Bauamt vorgenommen worden war, kam auf 5,8 Mio. Andererseits, man mußte mit dem Haus dringend etwas machen oder es mußte irgendwie weg,
  • denn der Landesrechnungshof hatte die Liegenschaft Schwesternhaus beanstandet und damit das MWK unter Druck gesetzt. Das Ding rechnete sich nicht und hatte sich als Fehlinvestition erwiesen.
  • Die Bundeswehr hatte Interesse daran. An einer denkmalgeschützten Immobilie kann man der Rechtslage nach baulich nicht viel verändern, um sie einer neuen Zweckbestimmung zuzuführen. Es sei denn, man kann ein "erhebliches öffentliches Interesse" nachweisen, dann kann man sie sogar abreißen lassen. Daß die Vaterlandsverteidigung wenig Probleme hat, ein solches Interesse geltend zu machen, braucht hier nicht erläutert zu werden. Als wir jedoch im MWK saßen, hatte sich die politische Großwetterlage stark geändert (der besagte Gorbi...) Somit war es für die Bundeswehr nicht mehr so einfach, weiteren, zusätzlichen Platzbedarf (Schwesternhaus) für die Vaterlandsverteidigung geltend zu machen, und es war für das MWK nicht so leicht, dem zuzustimmen und dafür 
  • ca. 100 Studenten den preiswerten Wohnraum zu entziehen. Wie schon gesagt, man war sich des Modellcharakters des Hauses, der Existenz des Vereins, des Engagements der Bewohner und des mehrjährigen Funktionierens der studentischen Selbstverwaltung in diesem Haus sehr wohl bewußt.

Hinzu kam eine etwas unrealistische, um nicht zu sagen krasse behördliche Fehleinschätzung der Hausbewohner, ein Trauma, daß damals vielerorts vorhanden gewesen sein mag. Richtig deutlich wurde das bei einem der weiteren Gespräche im MWK, bei dem das Szenario angesprochen wurde, nämlich, mit dem Verkauf an die Bundeswehr auch an die 100 Studenten einfach so auf die Straße zu setzen. Und daß das natürlich nicht so ganz ohne Folgen und Widerstand unsererseits ablaufen würde. Die Antwort war, ja, das würde gesehen und das wollte man nicht, denn "schließlich wollen wir keine neue Hafenstraße". Die Leute im MWK hatten offenbar ein Fernsehbild mit 100 Schwesternhäuslern vor Augen, die marodierend und steinewerfend durch die Lister Meile zogen.

Ich erinnere mich gut, wie Gero und ich einen raschen Blick wechselten und kann mit einigem Stolz berichten, daß wir beide keine Miene verzogen. Es gelang uns heldenhaft, das Grinsen zu unterdrücken, welches sich quasi zwanghaft und wie von selbst auf unsere Gesichter stehlen wollte: Das Schwesternhaus - eine Hafenstraße? Dieses Potential hatte das Haus nicht, hat es meines Wissens nie besessen. Was geschah?

Nachdem wir das Angebot zur Übernahme erhalten hatten, wurden zwei Gutachten in Auftrag gegeben. Das eine, erstellt von der Planungsgruppe Schaumburg, sollte zeigen, unter welchen Umständen der Schwesternhausverein das (renovierte) Haus in Zukunft halten, erhalten und gestalten könne, wieviel Miete zu erheben sei etc. - ein Papiertiger, der trotz vorhandener Zahlen auf Schätzungen beruhte. Das zweite Gutachten war wesentlich wichtiger. Es stammte von Bernie Jaspers, wies die voraussichtlichen Kosten zur Instandsetzung des Gebäudes aus und war damit Grundlage für die Summe, die wir vom Land als Voraussetzung zur Übernahme der Trägerschaft durch den Verein forderten: Insgesamt 2,8 Mio. DM, natürlich damals noch ohne Spitzdach.

Beide Gutachten wurden vom Verein bezahlt, wozu dessen paar tausend Deutschmark auch gerade ausreichten und beide wurden vom MWK als Verhandlungsgrundlage akzeptiert. Auch die geforderte Summe wurde akzeptiert, und der Landtag stimmte der Mittelbewilligung irgendwann zu. Der Erbpachtvertrag wurde ausgehandelt und schließlich unterschrieben. Alles ganz einfach, nicht? Nein, war es nicht, das war kein Selbstläufer. So hatten wir zeitgleich mehrere Modelle der Übernahme vorzubereiten und zu diskutieren, um die Chancen zu erhöhen, daß eines schließlich greifen würde. Ein Privatunternehmer, die Immobilienfirma Gundlach, zeigte vorübergehend großes Interesse und es gab eine Notvariante, die an Stelle des Vereins das Studentenwerk als Träger der Liegenschaft vorsah, unter möglichst weitgehendem Erhalt der studentischen Heimselbstverwaltung. Das Ganze zog sich bis zur Unterzeichnung des Erbpachtvertrages über drei Jahre und drei Vereinsvorstände hin.

Wie sollte es weitergehen?

Es gab finanzielle, politische und rechtliche Probleme und Schwierigkeiten. Aber, um es noch einmal zu betonen, wir konnten mit unseren beiden Gesprächspartnern offen reden. Oft kamen die Lösungsvorschläge von Frau Valentin und Herr Dr. Jakob. Sie waren nicht unsere Gegner, nicht einmal bloße Verhandlungspartner, sondern sie waren unsere Verbündeten bei der Verwirklichung des Projekts. Das Haus hat diesen beiden viel zu verdanken, und das sollten wir nicht vergessen. Und wie war die Diskussion im Haus? Tja, das war eigentlich fast der schwierigere Part für die Vorstandsarbeit in dieser Zeit. Viele glaubten uns nicht so recht, wenn wir auf der SKT oder der HVV mal wieder positiv von den Gesprächen im MWK berichteten. Zu tief saß das Feindbild vom bösen Ministerium, zu stark war das Mißtrauen verwurzelt, wir würden hier irgendwie über den Tisch gezogen. Wollten wir das alles überhaupt? Konnte das funktionieren, egal was das Gutachten der PG Schaumburg sagte? Und wenn, was würde werden, wenn die Räumungs- und Abrißgefahr gebannt wäre und die Schwestern damit das einende Element, den gemeinsamen Gegner verlieren würden? Würde das Engagement nachlassen, das immer wieder, über die Jahre hinweg, Leute aus dem Haus dazu gebracht hatte, sich der Sache anzunehmen und den Laden am Laufen zu halten? Gerade diese Befürchtung ließ uns eine Weile lang die Version mit dem Studentenwerk vorantreiben, vielleicht aus Angst vor der eigenen Courage. Besser das Schwesternhaus unter sicherer Oberhoheit als Spielforum für ein paar Selbstverwaltung spielende Studis. Und wenn das Haus renoviert und damit endgültig eine von der Mentalität her andere Bewohnerschaft einziehen würde, die bisher zumindest teilweise aus Mangel an Komfort weggeblieben war? Würde die endgültige Öffnung für andere Studienrichtungen, unter Zurückdrängung der Tiermedizinerfraktion, eher zu massiven Problemen oder zu neuen Impulsen führen? Und so weiter...

Es wurde endlos, immer wieder, über alles und jeden einzelnen Teilschritt diskutiert, privat, im Vorstand, auf SKT's, HVV's bis hin zur VVV (erinnert sich jemand noch an die Diskussionen um die Biegeweiche, die nie gebauten Schallkörperchen, an das Drama mit der Emporenfarbe oder die Designer-Lampen des Künstlerfreundes von Rolf Deckena?) Was aber immer wieder alle einte, war gerade das durchaus reale Feindbild der Abrißbirne. Wenn nicht der Schwesternhausverein bzw. die Perspektive Studentenwohnheim - was blieb dem MWK denn dann anders übrig als die Lösung mit der Bundeswehr? Irgendeine Lösung mußte schließlich her, das war unmißverständlich klar.

Und so kam es - trotz bzw. gerade wegen dieser langen und ungezählten Diskussionen auch zu solchen Phänomenen wie dem, daß sich die Bewohnerschaft eben mal kurz durch einstimmigen (ohne Enthaltung!) HVV-Beschluß eine Verdoppelung des zu zahlenden Flurgeldes verordnete, um rechtzeitig Reserven für die Übernahme anzusparen. Einigkeit herrschte von vornherein auch darin, die Forderungen zwar realistisch, aber auch moderat zu formulieren. Wir wußten, daß das MWK auch damals schon nicht viel Geld zur Verfügung hatte. Aber glücklicherweise war alles schon unter Dach und Fach, als Gerhard Schröder dann schließlich die Wahl gewann und sich Umschichtungen im Haushalt absehen ließen. Der Vertrag war so gut wie unterschrieben und die vom Land eingegangenen Zahlungsverpflichtungen fast schon bestandskräftig.

Auch war eigentlich allen klar, daß es nicht unser Ding sein konnte, die Probleme der zukünftigen Schwestern vorweg zu lösen. Das mußten die schon selber tun. Wir konnten höchstens ein paar Sicherungen einbauen. So ist z. B. die heutige Satzung des Vereins darauf ausgerichtet, eine unrettbare Verschuldung des Hauses oder dessen vollständige Zweckentfremdung zu verhindern. Auf daß diese längst vergangenen Stunden, diese nicht enden wollenden Diskussionen nicht absolut und endgültig in der Versenkung verschwinden, wenn auch viele der Probleme, die da diskutiert wurden, hoffentlich für alle Zukunft hypothetisch bleiben mögen!

Wolfram Martens im Jahre 1997

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letzte Aktualisierung am: 27.07.2011