Hannovers selbstverwaltetes Studierendenwohnheim

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1971: Von den Anfängen

Mit dem Hund zum Klo – Renate zieht ein

Bis zum August 1971 habe ich eigentlich ein ziemlich ruhiges Leben geführt - vielleicht zu ruhig. Ich wohnte in der elterlichen Wohnung in der überaus anständigen hannöverschen Südstadt, studierte im 8. Semester Tiermedizin und hatte einen Freund, der meinen Eltern wohlbekannt war. Doch dann sollte sich mein Leben plötzlich ändern: Ich erfuhr, daß jenes unheimliche, verfallene Gebäude hinter der Hochschule, das "Damenstift Schwesternhaus", bis zu seinem wohl in nicht allzu ferner Zukunft bevorstehenden Abriß den Studenten der TiHo zu Wohnzwecken zur Verfügung gestellt werden sollte. Alles in Selbstverwaltung, 35 DM Miete plus Wassergeld. Das konnte ich mir sogar von meinem armseligen Stipendium leisten. Also, nichts wie hin!

Es gibt immer Leute, die schneller sind. So fand ich dort schon eifrig räumende, pinselnde und vor allen Dingen schöne alte Möbel schleppende Tiermedizinstudenten vor. Um sie herum wuselten Hunde aller Größen. Aber auch alte Leute, die noch kein neues Zuhause gefunden hatten, schlurften verwirrt über all diese plötzlichen Aktivitäten durch die dunklen Flure und tauchten hinter verwinkelten Ecken auf, und man wußte nicht, ob man sich selbst mehr erschrocken hatte oder diese verbliebenen greisen Bewohner. Richtig leer waren die Wohnungen nicht. Zwischen Wachstuch, Resopalplatte und Linoleum konnte man gelegentlich einen kleinen schönen Schrank, einen alten Stuhl oder andere antike Dinge ergattern. Die ehemaligen Bewohner hatten diese Sachen teilweise freiwillig aber sicher auch teilweise unfreiwillig zurückgelassen. In einer Wohnung war sogar noch das verschimmelte Essen auf dem Teller in der Küche - wer weiß schon, warum. Über allem lag ein unsagbarer Geruch von Muff, Feuchtigkeit und Verfall, eingetaucht in eine etwas unheimliche, auch am hellen Tage nicht verschwindene Dunkelheit.

Es gab Bereiche, die waren einfach abgeschlossen und versperrt. Es hatte im Krieg Bombenschäden gegeben, die auch gut 25 Jahre später noch nicht behoben waren, so daß tatsächlich Einsturzgefahr bestand. Der Blick in die Kapelle war einfach umwerfend: Durch das im Krieg zerstörte Dach konnte man den Himmel sehen. Unter den gebrochenen, verkohlten Dachbalken war ein längerer Aufenthalt kaum zu empfehlen und auch von niemandem ernsthaft angestrebt, da der gesamte Boden knöchelhoch mit Taubenkadavern bedeckt war. Trotzdem gab es einen mutigen Dieb, der Verwendung für den alten Altar hatte.

Für meine erste Nacht in Wohnung 4 lieh ich mir den Cockerspaniel meines Freundes, damit ich, falls ein nächtlicher Klobesuch nötig sein sollte, nicht alleine den langen dunklen Flur hinunter mußte. Ich weiß nicht, wer mehr Angst hatte, der Hund oder ich. Zwischen den hohen alten Regalen der Teestube fanden die ersten Flurversammlungen statt, auf denen Flursprecher gewählt und Regeln für das Zusammenleben aufgestellt wurden: Beispielsweise, daß man Hunde nicht für eine 3tägige Reise in einen Flurteil eingesperrt kläffend und kackend zurücklassen durfte, daß man nicht die Hundekacke unterm Schuh auf irgendeiner Treppenstufe abstreifen durfte und daß man nicht in Abwesenheit seines Nachbarn die Sicherung aus dem Kasten im Flur "ausleihen" durfte. Sonst konnte es unter Umständen passieren, daß bei dessen Rückkehr aus dem Urlaub sämtliche Goldfische mit dem Bauch nach oben im Aquarium schwammen. Auch Hühnerhaltung und das Schlachten von Hammeln im Keller mußten ausdiskutiert werden. Den Bewohnern in der Nachbarschaft war das alles ziemlich unheimlich.

Hundeverbot in der TiHo

Beim Edeka-Kaufmann am Bischofsholer Damm erzählte man sich, daß die Mädchen noch auf der Straße quiekten, wenn sie das Haus verließen. Für fällige Reparaturen wurden drei langhaarige sogenannte Handwerker im Haus aufgenommen, die für freies Wohnen kleinere Reparaturen zu übernehmen hatten. Zumindest zwei davon hatten es bezüglich ihrer Arbeit nicht sehr eilig und waren gelegentlich ein wenig zugekifft. Über 70 Hunde gab es in einem Haus - das war schon nicht so ganz wenig. Sie wurden gerne mit in die Vorlesungen genommen, wo sie sich räkelten, gähnten oder zu aktuellstem Vorlesungsstoff furzten. Zum Bäcker war die Abkürzung über das Hochschulgelände üblich. Als sich dann bei einigen Schwesternhaushunden ein Salmonellenverdacht bestätigte, gab es einen guten Vorwand für die Verbannung der Hunde. An allen Instituten wurden Hundeverbotsschilder mit dem Hinweis auf Seuchengefahr angebracht - es gibt sie heute noch.

Das Thema Flurreinigung und vor allen Dingen die Reinigung der Toiletten beherrschten jede Flurversammlung. Nach kurzer Zeit wurde das erste Mal baulich investiert: Es gab Duschen - nicht sehr komfortabel, aber immerhin. Nun kam noch der Streitpunkt, Reinigung der Duschen hinzu. Inzwischen hatte jeder in seiner Wohnung seinen Einrichtungsstil gefunden. Besonders beliebt war das Zimmern von Hochbetten. Geschmacklich gab es alles, was man sich nur vorstellen kann: Von Kerze und Konservendosen als Aschenbecher neben einer durchgelegenen Matratze als Gesamteinrichtung bis hin zu Blümchenrüschen an Fenstern, Lampen und am Himmelbett war alles zu finden. Ein Bewohner brachte im Erdgeschoßflur genau in der Mitte des Haupttraktes eine riesige Schaukel an der Decke an, die die Kinder aus der Umgebung herbeilockte. Es machte ihnen Spaß, beim Schaukeln den restlichen Stuck von den Wänden zu treten.

Auch zwischenmenschlich passierte einiges: So lernte ich schon nach kurzer Zeit meinen jetzigen Mann kennen, der damals in Wohnung 62 wohnte, aber ziemlich schnell zu mir in Wohnung 4 zog, weil wir dort eine tolle Gasheizung hatten. Wenn zwei in einer Wohnung wohnten, verlangte die Hochschule, an die die Mieten gezahlt wurden, 10 DM mehr Wassergeld. Auch andere kamen sich näher. Bald gab es die ersten Schwangeren, die am Springbrunnen im Garten saßen und für ihre Babys strickten - und dann eben auch die ersten Kinder im Schwesternhaus. Aber es gab auch Eifersuchtsdramen inklusive Jagd über die Dächer. Es wurde viel gefeiert, gemeinsam gekocht, Ausflüge gemacht, im Garten am Springbrunnen der Sommer genossen. Eigentlich konnte man als Student kein schöneres Leben führen.

Das Hundeleben im Schwesternhaus

Auch dem Hund von Prof. Brass gefiel es immer sehr gut in unserem Schwesternhaus, weil von den über 70 Hunden immer irgendeine Hündin läufig war. Dabei hob der Professoren-Deutsch Drahthaar gern mal an diesem oder jenem Türrahmen das Bein. Wie man munkelte, führte das einmal dazu, daß er das Schwesternhaus mit blaulackiertem Hoden wieder verließ. Einige Hundenarren konnten sich mit ein oder zwei Hunden in ihrer Wohnung nicht begnügen und züchteten Hunde. In einer bestimmten Wohnung rutschte man beim Betreten entweder auf einem Stück Pansen aus oder man stolperte über den Hinterschenkel eines Pferdes, der zur Ernährung und Beschäftigung der Hunde im Wohnzimmer lag und mit seinem Geruch wohl nur auf die zahlreichen Schmeißfliegen einladend wirkte.

In den Semesterferien war allerdings auch im Schwesternhaus das tiermedizinübliche, kiloweise Studieren von Tips und Büchern angesagt, wobei man sich gerne mit guten Materialien gegenseitig half. Und jeder der erfolgreich sein Studium und schließlich seine Promotion hinter sich gebracht hatte und sehr froh darüber war, mußte danach einen sehr, sehr schweren Schritt tun, nämlich das geliebte Schwesternhaus verlassen. Es war nicht nur ein Haus, sondern ein ganz besonderer Lebensstil, den die meisten nicht vergessen werden.

Renate Fries-Jung im Jahre 1997

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letzte Aktualisierung am: 27.07.2011