Hannovers selbstverwaltetes Studierendenwohnheim


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Von einem, der auszog, um einzuziehen...

Komm doch einfach heute abend vorbei!“ hatte mein Kumpel Micha gesagt. „Das Schwesternhaus liegt genau hinter der Tierärztlichen Hochschule, das kannst Du gar nicht verfehlen. Zuerst gucken wir im Garten Fußball, danach gibt’s dort ein Lagerfeuer...“ Mein erster Blick aufs Schwesternhaus ist fast zu kitschig um wahr zu sein: Ich radle über das TiHo-Gelände und stehe plötzlich vor diesem gelben Altbau. Drei Stockwerke, rotes Dach mit lauter kleinen Erkern. Dutzende von grüngestrichenen Holzfenstern, die meisten stehen offen. Direkt vor mir der Eingang mit den großen Holztüren, links sehe ich zwischen den hohen Bäumen die großen Fenster der Kapelle. Auf dem Rasen bekriegen sich drei Hunde, eine Katze liegt desinteressiert daneben. Ein paar Studis sitzen auf Campingstühlen und diskutieren über irgendwas. Wie gesagt: Fast zu kitschig, um wahr zu sein. Überflüssig, zu erwähnen, das die tiefstehende Sonne alles auch noch in rotes Licht taucht. Ein Studi-Wohnheim habe ich mir so jedenfalls nicht vorgestellt.

Im Garten bin ich erstmal baff. Verwilderte Büsche, hohe Bäume, sogar an einem kleinen Teich komme ich vorbei. Auf einer kleinen Lichtung sitzen, liegen und stehen zwanzig Leute um einen viel zu kleinen Fernseher herum. Deutschland spielt um die Europameisterschaft. „Such Dir ‘nen Platz. Möchtest Du was trinken?“ Ja, ich möchte, es gibt Öko-Bier und Öko-Wein. „Hi, Dich habe ich hier noch nie gesehen. Bist Du neu hier?“, fragt mich einer. „Nein“, antworte ich, „nur zu Besuch.“ Im Geiste füge ich schon mal das Wort „Vorerst“ hinzu.

Es wird langsam dunkel und hinter den meisten Fenstern, die von hier aus zu sehen sind, geht irgendwann das Licht an. Die Truppe um den Fernseher redet über Gott und die Welt und HVVs. Hausvollversammlung heißt das, wird mir erklärt. Deutschland wird nebenbei Europameister. Etwa acht Wochen und zwei Kapellenpartys später bin ich dann so weit für:

Die Wohnungs-Bewerbung

Carola aus Wohnung 7 ist dafür zuständig: „Deine Bewerbung ruht jetzt erst einmal für sechs Monate. Danach kommt sie in einen Topf, aus dem dann per Losverfahren die Namen gezogen werden, die auf die Warteliste kommen. Werden Wohnungen oder WG-Zimmer frei, wird die Warteliste dann von oben nach unten abgearbeitet. Irgendwann bist Du dann an der Reihe.“ Sechs Monate? So lange kann ich nicht warten. Bleibt also nur:

Die Untermiete

„Wohnung 30 im ersten Stock ist gerade frei. Die Studentin, die sonst hier wohnt, ist noch für drei Monate in den USA. Bis dahin kannst Du hier wohnen, wenn Du magst“, erklärt mir Christina aus Wohnung 26. 71 Wohnungen gibt es hier, habe ich gehört. Alles Zweizimmer-Wohnungen, ungefähr gleich geschnitten. 35 Quadratmeter hat die, die ich mir anschaue. Ein kleiner, flacher Vorraum mit Waschbecken. Geradeaus geht’s in die Küche, links ins Wohnzimmer. Das mißt 3,5 x 4 Meter, die Decke ist dreieinhalb Meter hoch. Ein großes Fenster läßt eine Menge Licht herein. Weiter geht’s ins Schlafzimmer. Etwas schmaler als das Wohnzimmer, ein Hochbett.

Einige Schimmelpilze begrüßen mich freundlich. Die Küche hat noch mal ungefähr sechs Quadratmeter und ist voll eingerichtet. Der Platz über dem kleinen Flur dient als Stauraum. Toiletten und Badezimmer sind direkt über den Flur. „Ungefähr 350 Mark warm im Monat müßtest Du bezahlen. Willst Du die Wohnung haben?“ Ich muß nicht lange überlegen.

Mein zweiter Tag. Ich hab mir Waschmarken geholt und bin auf der Suche nach dem Keller mit den zwei Waschmaschinen. Aus dem Bundeswehrflügel kommt mir eine Frau entgegen: „Hi! Du bist Bernd, der jetzt bei Pete zur Untermiete wohnt, oder?“ Aha. Die Informationspolitik im Haus scheint ja gut zu funktionieren. Die Sache fängt langsam an, Spaß zu machen. Es gibt einen Putzplan fürs Badezimmer. „Wenn dein Name draufsteht hast Du von Montag bis Sonntag Zeit, Bad und Klos zu putzen!“ erklärt mir meine Nachbarin Karin (31) unmißverständlich. „Machst Du das nicht, zahlst Du dreißig Mark in die Flurkasse!“ Das habe ich verstanden. Als ich also pünktlich am Sonntag um 23 Uhr mit dem Putzen beginne, sehe ich, daß auch auf den anderen Fluren überall Leute mit Eimer und Wischmob unterwegs sind.

Nach zwei Monaten als Untermieter fühle ich mich schon richtig heimisch im Schwesternhaus. Und mein Name steht noch nicht mal auf der Warteliste. Das gibt Probleme, wenn nicht bald..... „Hi! Ich mache demnächst für sechs Monate ein auswärtiges Praktikum.“ begrüßt mich Sven aus WG 103. „Hast Du Lust, für die Zeit als Untermieter in mein WG-Zimmer im Spitzdach zu ziehen?“ Ja, habe ich.

Im Spitzdach

22 Quadratmeter hat mein neues Reich, eine Dachschräge und ein Fenster zum Garten. Das einzige, was mich stört: Ich hatte mich gerade an die hohen Zimmer in „meiner“ Wohnung gewöhnt, und hier im Spitzdach sind die Decken nur 2,50 Meter hoch. Wir - eine 3er-WG - haben eine riesige Küche, einen großen Flur und einen kleinen Waschraum. Bad und Doppelklos teilen sich drei WGs. „Das Spitzdach ist erst vor ein paar Jahren wieder auf- und ausgebaut worden. Seitdem gibt es hier 36 Wohnplätze in 13 WGs direkt unter dem Dach.“

Mein Mitbewohner Christian ist im Vorstand. Außerdem ist er noch ein wandelndes Schwesternhaus-Lexikon. Von ihm erfahre ich, wer was wann wo und warum macht im Haus. Als ich beim Frühstück laut darüber nachdenke, wieviel das Haus wohl wert ist, kommt seine Antwort „der Wiederaufbauwert liegt bei 15 Millionen“ wie aus der Pistole geschossen. Nur auf die Frage, wieviele Leute hier eigentlich wohnen, gerät er ins Stocken. „Ääh...ich hole mal meine Unterlagen.“ Laut Arbeitsstundenabrechnung circa 120 Bewohner, wegen der Untermieten und der zum Teil von mehreren Leuten bewohnten Wohnungen ist das nicht genauer rauszufinden.

Apropos Arbeitsstunden... Zwei Stunden im Monat muß jeder im Haus oder im Garten arbeiten, um das Haus mindestens im gegenwärtigen Zustand zu erhalten. Angeblich soll es immer wieder - kurz bevor die jährliche Stundenzahl abgerechnet wird - zu plötzlichen Arbeitsexzessen kommen. (Was ich nicht glauben konnte, bis mir einer meiner Mitbewohner versicherte, er habe „heute schon zwölf Stunden lang den Flur gestrichen...“). Bei meiner ersten HVV falle ich schon deswegen auf, weil ich fast als einziger pünktlich bin. Und ich habe nichts zu trinken oder zu essen dabei. Als es schließlich losgehen soll, sind von den über hundert Studis, die hier wohnen, nicht mal fünfzig da.

Also gehen einige los, um noch mehr Leute zusammenzutrommeln. Damit die HVV beschlußfähig wird, sind nämlich zwei Drittel aller möglichen Stimmen nötig, wird mir erklärt. Um halb zwölf ist alles vorbei. Kritisch betrachtet, hätten wir auch schon um halb zehn fertig sein können und das Ganze erinnerte mich etwas an Parteitage der Grünen.

Die eigene Wohnung

Mein Name steht auf der Warteliste schon fast ganz oben! Telse (aus Wohnung 4; von ihr stammt die Idee zu diesem Jahrbuch) will ausziehen und lädt mich in ihre Wohnung im Erdgeschoß ein. Ihre einzige Bedingung: Ich muß die Katze übernehmen (selbige sitzt gerade schnurrend auf meinem Schoß und behindert mich beim Schreiben - womit klar wäre, daß ich die Wohnung auch genommen habe). Entscheiden darüber, ob ich die Wohnung auch wirklich kriege, kann aber nur

Die Flurversammlung

„Ich bin Bernd und möchte in Telses Wohnung einziehen.“ Ich muß rausgehen und meine zukünftigen Nachbarn stimmen in der Teestube darüber ab, ob sie mich denn wollen. Sie wollten. Jetzt sitze ich hier, schaue von meinem Fenster aus auf die Bäume vor dem Haus und feiernde Tiermediziner vor der alten Zoologie. Kein Zimmer im Studentenwohnheim. Meine Wohnung. Vor ein paar Monaten gab es mal wieder ein Fußball-Länderspiel im Fernsehen. Ein Freund hat mich gefragt, ob er nicht vorbeikommen kann. „Klar“, hab ich gesagt. „Das Schwesternhaus kannst Du gar nicht verfehlen. Es liegt genau hinter der TiHo. Wir sitzen entweder vor dem Haus oder im Garten. Nach dem Spiel machen wir ein Lagerfeuer...“

Bernd Schwedhelm im Jahre 1997

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letzte Aktualisierung am: 18.05.2017